Gastkolumne:
Vorwärts, rückwärts & umgekehrt
Von Hansgeorg Stengel
Dem Journalisten, Schriftsteller und
Solokabarettisten steht 2002 eine große Feier ins Haus. Schließlich
ist er Jahrgang 1922.
Liebe liebste Freunde sowie reziprok auch Verwandte! Hier und heute
keine Rat- oder Europaratschläge, sondern ermutigende Nachricht: Wir
sind die von Gott auserwählte oder, profan ausgedrückt, von Chronos
begünstigte Generation, die – so was kommt nur alle tausend Jahre
vor – zwei palindromische Jahre erlebt (hat). |
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Für nicht Eingeweihte: Palindromische Jahre sind von links nach
rechts (oder von vorn nach hinten) sowie von rechts nach links (bzw. von
hinten nach vorn) identisch: z. B. anno 999, 1001, 1661, 1881 oder aktuell
1991 und 2002. Die chronologische Gunst, doppelt chronologisch ausstaffiert
zu sein, produziert bei aktuell Lebenden das Hochgefühl, einer elitären
Gesellschaft anzugehören. Was freilich mich als Stengel betrifft,
so habe ich mir einst als Vierzigjähriger epigrammatisch leichtsinnig
ein Bein gestellt:
»Kein Taschenrechner sagt dir (das ist dumm):
’Jetzt ist, mein Freund, das halbe Leben rum!’
Erst auf dem Sterbebett errechnet man:
Mit Vierzig fing die zweite Halbzeit an!«
Bezöge ich die Verse als inzwischen bald Achtzigjähriger auf
mein Ablebensschicksal, wäre für mich demnächst Sense. Deshalb
setze ich ins Epigramm anstelle der Vierzig listig die Fünfzig. Punktum.
Zurück zur elitären Palindrom-Gesellschaft. Steht sie angesichts
z. B. der Rechtschreibreform tatsächlich auf höherer Stufe? Auf
höherem Niveau? Auf höherem Level? Diese Reform ist, behaupte
ich, großmütig bemessen, zu zwei Elfteln ein Absurditäten-Panoptikum:
Es tut mir Leid, du hast Recht, Gämse, Quäntchen, Arm (Körperteil?)
und Reich (Großmacht?), Tollpatsch, schief gelatscht, still halten,
allein stehend, Alt und Jung. Statt sich wenigstens schrittweise an die
Kleinschreibung heranzupirschen (und damit das Schriftbild anderer europäischer
Partner eher zu achten statt zu ächten), sind Großbuchstaben
hier zu Lande Majestäten. Und
was nun den geradezu tollwütigen Kreuzzug gegen Anglizismen/ Amerikanismen
betrifft: Kommt alles Sprach- und Schreibübel wirklich von Importen
aus angloamerikanischer Sphäre? Okay: Es muss, was Syntax-,
Grammatik- und Vokabel-Einfuhren betrifft, immer mal wieder darauf hingewiesen
werden, dass Angeberei, Wichtigtuerei und Pseudobildungsarroganz als Urheber
des Fremdwortfimmels zu brandmarken sind. Mir
sind Kinder lieber als Kids. Gern bin ich ein Ereignis, weniger gern ein
Event. Wenn ich glücklich bin, muss ich nicht happy sein. Nach einer
Reha-Kur sollte mich mein Sohn als erholt und nicht als relaxed taxieren.
Auch lasse ich Berti Vogts den Teamgeist anstelle des Mannschaftsgeistes
gerade noch durchgehen. Vogts’ Teamspirit indessen weise ich zurück.
Und schließlich: Andy Möllers (Schalke 04) Statement »Vom
Feeling her hab ich ein gutes Gefühl« ist klassisches Exempel
für bescheuerte Schaumschlägerei. Aber: Pauschale Fremdwort-Verteufelung
geht mir gegen den Strich, auf den Docht, auf den Senkel, an die Nieren
sowie auf die Ketten.
Die deutsche Sprache ist im Lauf der Jahrhunderte durch griechische,
lateinische, arabische, französische, osteuropäische, russische
und last not least durch angloamerikanische Wörter (von Fachwörtern
ganz zu schweigen) eher bereichert denn beschädigt worden. Habe ich
mich mit dieser These vom Saulus zum Paulus verwandelt? Nein doch, not
at all! Aber ich habe bemerkt, dass
oft gerade fanatische Puristen von ihren deutschsprachlichen Gebrechen
ablenken wollen. Diese Eiferer unterscheiden nicht lehren und lernen,
sagen »schöner wie«, »das einzigste« und sprechen
skrupellos von den »ganzen Ausländern«, den »ganzen
Baumaßnahmen«, den »ganzen Preiserhöhungen«
und natürlich von den »ganzen Jahren«, in denen sie nach
den »ganzen Apfelsinen und Bananen« anstehen mussten.
Dabei hätte den Sprachsündern spätestens am Weihnachtsabend
beim Gesang des Liedes »Alle Jahre wieder kommt das Christuskind«
auffallen müssen, dass das Christkind mitnichten »die ganzen
Jahre« wiederkommt. Oder die millionenfache Unterschlagung des Genitivs!
»Der Pokal ist Ihnen!« (OB Petra Roth, Frankfurt/ Main, zu
Torhüter Köpcke), »Sie ist wegen mir mitgekommen?«
(Millionenspiel- Moderator G. J.), meinem Opa sein Auto, meiner Oma ihr
Garten, wegen ihm, wegen uns, die Brieftasche ist mir. Heiliger Konrad,
wassagstnDudenda? Schließlich diese lächerlichen doppelt- gestrickten
so genannten Tautologien und Pleonasmen: Rückstau, Rückerinnerung,
Vorahnung, Zukunftsvision, aufoktroyieren, hinauszögern, zusammenharmonieren,
alter Veteran, kleiner Imbiss, zusammenschrumpfen. Es reicht. Mir reicht’s.
Letzte Worte, die unbedingt in eine sozialistische Tageszeitung gehören:
Die Überschrift der Kolumne gebietet Modernisierung eines E.H.-Kernspruchs.
Aktuelle Fassung: »Vorwärts, Zimmer – rückwärts nimmer!«
So steht’s jedenfalls im Gregorianischen Kalender.
(Neues
Deutschland 29.12.01)
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