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Zum
Europäischen
Jahr der Sprachen 2001 veranstaltete die Österreichische Akademie
der Wissenschaften vom 7. bis 9. Juni in Wien die Konferenz »Die
Kosten der Mehrsprachigkeit - Globalisierung und sprachliche
Vielfalt«.
Ein besonderer Schwerpunkt war dabei der Mehrsprachigkeit in den
Wissenschaften
gewidmet. WissenschaftlerInnen aus 11 Ländern erarbeiteten dabei
die
folgenden Grundsätze und Empfehlungen für die Entwicklung
einer
europäischen Sprachenpolitik, die auf der nationalen wie
regionalen
Ebene fortgesetzt werden muss:
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Grundsätze
a) Das Projekt
einer europäischen
Vereinigung wird nur bei
Erhalt und Förderung der europäischen Mehrsprachigkeit
gelingen.
Einerseits können demokratische Rechte nicht an Fremdsprachen-
kenntnisse
gebunden werden, andererseits ist das gegenseitige Verstehen eine
Voraussetzung
für das Zusammenleben.
b) Es besteht kein
Widerspruch zwischen der
Benutzung einer Lingua
Franca (zumeist Englisch) in manchen Arbeitsbereichen und einer
lebendigen
Mehrsprachigkeit in anderen Bereichen. Die aus der Mehrsprachigkeit
entstehenden finanziellen Kosten werden vielfach überschätzt.
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c) Voraussetzung für das
Entstehen einer
europäischen Identität ist, dass die BürgerInnen neben
einer
in manchen Fällen die Verständigung erst ermöglichenden
Lingua Franca (z.B. Englisch) ihre Muttersprache in dieser wiederfinden.
Die Einführung einer einzigen europäischen Leitsprache jedoch
würde zu einer politischen und wirtschaftlichen Bevorzugung der
Muttersprachler
dieser Einheitssprache und zu nicht absehbaren politischen Konflikten
führen.
Viele kulturelle Errungenschaften Europas sind eng an die Leistung
spezifischer Sprachen und geistesgeschichtliche Traditionen gebunden.
Der
Verzicht auf diese Sprachen und ihre Leistungen würde eine
gravierende
Einschränkung und Verarmung der kulturellen Vielfalt in Europa
bedeuten.
Der Verzicht auf Mehrsprachigkeit hätte zur Folge, dass in
Sprachen
nicht mehr genügend investiert wird und wichtige Kenntnisse und
Erkenntnisse
z.B. im Bereich des Übersetzens verloren gingen bzw. wertvolle
Wissensbestände
nicht mehr zugänglich wären.
d) Die Sicherstellung von Mehrsprachigkeit ist einerseits eine
Aufgabe
von Schulen, Hochschulen und Weiterbildung, andererseits aber auch eine
Pflicht der Regierungen. Beide müssen zusammenwirken und
Instrumentarien
schaffen, die Mehrsprachigkeit aufwerten und möglich machen. Ein
wichtiges
Element ist dabei, den vorhandenen Sprachenreichtum zu erhalten und zu
nutzen, indem Minderheiten- und Migrantensprachen verstärkt in das
allge-meine Bildungswesen integriert werden.
Empfehlungen
1. […]
2. Die Grundlage eines […] Gesamtsprachenkonzepts bilden:
a) das Recht für alle BürgerInnen, die eigenen
National-
und Minderheitensprachen zu erwerben und zu verwenden,
b) das Recht für alle Bürgerlnnen, mindestens
zwei weitere Fremdsprachen innerhalb der Pflichtschulzeit zu
erlernen,
c) die Pflicht aller Regierungen, durch besondere Maßnahmen
das Erlernen weiterer Fremdsprachen auch über die Schulzeit
hinaus
anzuregen und zu fördern,
d) die Pflicht aller Regierungen, mehrsprachige Unternehmungen,
Institutionen,
Homepages u.ä. durch Steuererleichterungen, Bonussysteme z.B. bei
der Auftragsvergabe o.ä. Maßnahmen zu fördern,
e) […]
3. Alle Regierungen
sollten einen festen Prozentsatz ihres BIP
für
die Förderung der Mehrsprachigkeit in Bildung, Forschung, Medien,
Politik, Verwaltung und Wirtschaft einsetzen.
4. Die Europäische
Union wird aufgefordert,
Mehrsprachigkeit auch
in ihrer eigenen Praxis glaubwürdiger umzusetzen,
- durch Ausweitung des Kanons der Arbeitssprachen z.B. nach
dem Prinzip europäischer Regionen,
- durch Nutzung des Internet für eine größere
Sprachenvielfalt,
- durch Umsetzung der Empfehlungen, die die Unterstützung
mehrsprachiger
Medien, Journale, Abstractdienste vorsehen,
- […]
- durch die Unterstützung von Übersetzungen bei
Projektanträgen,
Forschungsprojekten, Verlagspublikationen und Publikationen von
wissenschaftlichen
Texten in Zeitschriften,
- durch ein Überdenken der bisherigen Praxis der
Simultanübersetzungen,
- durch eine größere Verlässlichkeit der
Dokumentenübersetzung,
- durch einen Sprachlehreraustausch, der schon in der
Grundschule
beginnt, durch eine verstärkte Forschungsfinanzierung im
Bereich
der Mehrsprachigkeit (Einrichtung von Forschungsschwerpunkten).
5. Eine Reform des
tradierten Systems von
Fremdsprachenunterricht
würde es erlauben, mehr Sprachen in kürzerer Zeit im
Bildungswesen
anzubieten. Bestandteil einer europäischen Sprachenpolitik muss
daher
eine Reform des Fremdsprachenunterrichts sein, zu der hier Stichworte
genannt
werden:
- Frühbeginn des Fremdsprachenunterrichts mit besonderer
Berücksichtigung von Nachbar- und Begegnungssprachen,
- größere Flexibilität in der Sprachenfolge,
- Verwendung der Fremdsprachen als Arbeitssprachen bei
gleichzeitiger
Verkürzung der Zeitspanne für den traditionellen
Fremdsprachenunterricht,
- Einsatz von Intensivkursen auch im schulischen
Fremdsprachenunterricht
statt jahrelanger exten-siver Lernformen,
- Nutzung multimedialer E-Learning Ressourcen (v.a.
Fachsprachen),
- Förderung der rezeptiven Mehrsprachigkeit,
- Entwicklung einer curricularen Mehrsprachigkeit unter Nutzung
der Synergieeffekte bei der zweiten und dritten Fremdsprache,
- Veränderung der Ausbildung von FremdsprachenlehrerInnen:
statt eines philolo- gischen Modells Ausbildung zu ExpertInnen in
Sachen
Mehrsprachigkeit bzw. Sprach- und SachfachkoordinatorInnen,
- Förderung von Auslandsaufenthalten und Gastjahren von
LehrerInnen in
anders- sprachigen Ländern, ohne dass diese dadurch Nachteile
bezüglich
ihrer Versicherungen und Renten erleiden.
6. Die Beitrittsländer sollen ermutigt werden, neben der
Förderung
des Fremdsprachenlernens auch den Erhalt der eigenen National- und
Minderheitensprachen
im Rahmen ihres Bildungswesens und als Wissenschaftssprachen zum
Bestandteil
ihrer Sprachenpolitik zu machen.
[…]
Mehrsprachigkeit
in den
Wissenschaften
7. In den Wissenschaften
muss sichergestellt werden, dass neben
der
in vielen Wissenschaften benutzten Lingua Franca Englisch auch die
jeweilige
Nationalsprache als Wissenschaftssprache erhalten bleibt und
weiterentwickelt
wird. Zumindest in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist dies eine
zentrale Voraussetzung auch für den Erhalt der jeweiligen
Wissenschaftskulturen
mit ihrem spezifischen Erkenntnisgewinn.
Das bedeutet
- die Zwei- und Mehrsprachigkeit von WissenschaftlerInnen zu
fördern,
eine mehrsprachige Wissenschaftskultur zu entwickeln, z.B. durch die
Unterstützung
mehrsprachiger Abstract- Dienste und Fachzeitschriften und durch
mehrsprachige
Lehre, durch die Förderung der Übersetzung wissenschaftlicher
Publikationen
- Dissertationen und Habilitationen in den nationalen
Wissenschaftssprachen
zu fördern
- die Evaluation von wissenschaftlichen Leistungen nicht an […]
Evaluationsstandards […] zu orientieren, die die Lingua Franca
eindeutig
bevorzugen, sondern im Gegenteil mehrsprachige
Publikationstätigkeit
zu honorieren (besonders in den sogenannten nationalen
Wissenschaften
wie z.B. Geschichte und Sprachwissenschaft).
8. [...]
Kontaktadressen:
Rudolf de Cillia: rudolf.de-cillia@univie.ac.at
Hans-Jürgen Krumm: hans-juergen.krumm@univie.ac.at
Ruth Wodak: Ruth.Wodak@oeaw.ac.at
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