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Wiener Manifest
»Die Kosten der Mehrsprachigkeit«
Version 29. 6. 2001



    

 
 
 















 

 

Zum Europäischen Jahr der Sprachen 2001 veranstaltete die Österreichische Akademie der Wissenschaften vom 7. bis 9. Juni in Wien die Konferenz »Die Kosten der Mehrsprachigkeit - Globalisierung und sprachliche Vielfalt«. Ein besonderer Schwerpunkt war dabei der Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften gewidmet. WissenschaftlerInnen aus 11 Ländern erarbeiteten dabei die folgenden Grundsätze und Empfehlungen für die Entwicklung einer europäischen Sprachenpolitik, die auf der nationalen wie regionalen Ebene fortgesetzt werden muss:
Grundsätze
a) Das Projekt einer europäischen Vereinigung wird nur bei Erhalt und Förderung der europäischen Mehrsprachigkeit gelingen. Einerseits können demokratische Rechte nicht an Fremdsprachen- kenntnisse gebunden werden, andererseits ist das gegenseitige Verstehen eine Voraussetzung für das Zusammenleben.

b) Es besteht kein Widerspruch zwischen der Benutzung einer Lingua Franca (zumeist Englisch) in manchen Arbeitsbereichen und einer lebendigen Mehrsprachigkeit in anderen Bereichen. Die aus der Mehrsprachigkeit entstehenden finanziellen Kosten werden vielfach überschätzt.

c) Voraussetzung für das Entstehen einer europäischen Identität ist, dass die BürgerInnen neben einer in manchen Fällen die Verständigung erst ermöglichenden Lingua Franca (z.B. Englisch) ihre Muttersprache in dieser wiederfinden.  Die Einführung einer einzigen europäischen Leitsprache jedoch würde zu einer politischen und wirtschaftlichen Bevorzugung der Muttersprachler dieser Einheitssprache und zu nicht absehbaren politischen Konflikten führen.
Viele kulturelle Errungenschaften Europas sind eng an die Leistung spezifischer Sprachen und geistesgeschichtliche Traditionen gebunden. Der Verzicht auf diese Sprachen und ihre Leistungen würde eine gravierende Einschränkung und Verarmung der kulturellen Vielfalt in Europa bedeuten.
Der Verzicht auf Mehrsprachigkeit hätte zur Folge, dass in Sprachen nicht mehr genügend investiert wird und wichtige Kenntnisse und Erkenntnisse z.B. im Bereich des Übersetzens verloren gingen bzw. wertvolle Wissensbestände nicht mehr zugänglich wären.
d) Die Sicherstellung von Mehrsprachigkeit ist einerseits eine Aufgabe von Schulen, Hochschulen und Weiterbildung, andererseits aber auch eine Pflicht der Regierungen. Beide müssen zusammenwirken und Instrumentarien schaffen, die Mehrsprachigkeit aufwerten und möglich machen. Ein wichtiges Element ist dabei, den vorhandenen Sprachenreichtum zu erhalten und zu nutzen, indem Minderheiten- und Migrantensprachen verstärkt in das allge-meine Bildungswesen integriert werden.

Empfehlungen

1. […]
2. Die Grundlage eines […] Gesamtsprachenkonzepts bilden:
a)  das Recht für alle BürgerInnen, die eigenen National- und Minderheitensprachen zu erwerben und zu verwenden,
b)  das Recht für alle Bürgerlnnen, mindestens zwei weitere Fremdsprachen innerhalb der Pflichtschulzeit zu erlernen,
c)  die Pflicht aller Regierungen, durch besondere Maßnahmen das Erlernen weiterer Fremdsprachen auch über die Schulzeit hinaus anzuregen und zu fördern,
d) die Pflicht aller Regierungen, mehrsprachige Unternehmungen, Institutionen, Homepages u.ä. durch Steuererleichterungen, Bonussysteme z.B. bei der Auftragsvergabe o.ä. Maßnahmen zu fördern,
e) […]

3. Alle Regierungen sollten einen festen Prozentsatz ihres BIP für die Förderung der Mehrsprachigkeit in Bildung, Forschung, Medien, Politik, Verwaltung und Wirtschaft einsetzen.

4. Die Europäische Union wird aufgefordert, Mehrsprachigkeit auch in ihrer eigenen Praxis glaubwürdiger umzusetzen,
- durch Ausweitung des Kanons der Arbeitssprachen z.B. nach dem Prinzip europäischer Regionen,
- durch Nutzung des Internet für eine größere Sprachenvielfalt,
- durch Umsetzung der Empfehlungen, die die Unterstützung mehrsprachiger Medien, Journale, Abstractdienste vorsehen,
- […]
- durch die Unterstützung von Übersetzungen bei Projektanträgen, Forschungsprojekten, Verlagspublikationen und Publikationen von wissenschaftlichen Texten in Zeitschriften,
-  durch ein Überdenken der bisherigen Praxis der Simultanübersetzungen,
-  durch eine größere Verlässlichkeit der Dokumentenübersetzung,
-  durch einen Sprachlehreraustausch, der schon in der Grundschule beginnt, durch eine verstärkte Forschungsfinanzierung im Bereich der Mehrsprachigkeit (Einrichtung von Forschungsschwerpunkten).

5. Eine Reform des tradierten Systems von Fremdsprachenunterricht würde es erlauben, mehr Sprachen in kürzerer Zeit im Bildungswesen anzubieten. Bestandteil einer europäischen Sprachenpolitik muss daher eine Reform des Fremdsprachenunterrichts sein, zu der hier Stichworte genannt werden:
- Frühbeginn des Fremdsprachenunterrichts mit besonderer Berücksichtigung von Nachbar- und Begegnungssprachen,
- größere Flexibilität in der Sprachenfolge,
- Verwendung der Fremdsprachen als Arbeitssprachen bei gleichzeitiger Verkürzung der Zeitspanne für den traditionellen Fremdsprachenunterricht,
- Einsatz von Intensivkursen auch im schulischen Fremdsprachenunterricht statt jahrelanger exten-siver Lernformen,
- Nutzung multimedialer E-Learning Ressourcen (v.a. Fachsprachen),
- Förderung der rezeptiven Mehrsprachigkeit,
- Entwicklung einer curricularen Mehrsprachigkeit unter Nutzung der Synergieeffekte bei der zweiten und dritten Fremdsprache,
- Veränderung der Ausbildung von FremdsprachenlehrerInnen: statt eines philolo- gischen Modells Ausbildung zu ExpertInnen in Sachen Mehrsprachigkeit bzw. Sprach- und SachfachkoordinatorInnen,
- Förderung von Auslandsaufenthalten und Gastjahren von LehrerInnen in anders- sprachigen Ländern, ohne dass diese dadurch Nachteile bezüglich ihrer Versicherungen und Renten erleiden.
6. Die Beitrittsländer sollen ermutigt werden, neben der Förderung des Fremdsprachenlernens auch den Erhalt der eigenen National- und Minderheitensprachen im Rahmen ihres Bildungswesens und als Wissenschaftssprachen zum Bestandteil ihrer Sprachenpolitik zu machen.
    […]

Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften

7. In den Wissenschaften muss sichergestellt werden, dass neben der in vielen Wissenschaften benutzten Lingua Franca Englisch auch die jeweilige Nationalsprache als Wissenschaftssprache erhalten bleibt und weiterentwickelt wird. Zumindest in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist dies eine zentrale Voraussetzung auch für den Erhalt der jeweiligen Wissenschaftskulturen mit ihrem spezifischen Erkenntnisgewinn.
Das bedeutet
- die Zwei- und Mehrsprachigkeit von WissenschaftlerInnen zu fördern, eine mehrsprachige Wissenschaftskultur zu entwickeln, z.B. durch die Unterstützung mehrsprachiger Abstract- Dienste und Fachzeitschriften und durch mehrsprachige Lehre, durch die Förderung der Übersetzung wissenschaftlicher Publikationen
Dissertationen und Habilitationen in den nationalen Wissenschaftssprachen zu fördern
-  die Evaluation von wissenschaftlichen Leistungen nicht an […] Evaluationsstandards […] zu orientieren, die die Lingua Franca eindeutig bevorzugen, sondern im Gegenteil mehrsprachige Publikationstätigkeit zu honorieren (besonders in den sogenannten nationalen Wissenschaften wie z.B. Geschichte und Sprachwissenschaft).

8. [...]

Kontaktadressen:
Rudolf de Cillia: rudolf.de-cillia@univie.ac.at
Hans-Jürgen Krumm: hans-juergen.krumm@univie.ac.at
Ruth Wodak: Ruth.Wodak@oeaw.ac.at
 


              Quelle: Neusprachliche Mitteilungen 1*2002, S. 55 f.