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Ich über mich | Olympia 1972 |
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„AIDS ist die Strafe Allahs für die Schwulen”, hat mir Murat erläutert – er war vierzehn, und diese scharfsichtige Analyse hatte ihm sein Hodscha vermittelt, einer jener unsäglichen langbärtigen Gotteseiferer, der seine grenzenlose Dummheit nicht für sich behielt, sondern auch noch junge Menschen damit vergiftete, die zu ihm gekommen waren, um sich den Weg weisen zu lassen. Aber auf diesem Wegweiser stand nicht „Paradies“, sondern „Intoleranz und Hass“ – keine guten Ratgeber für die, die nach dem Weg suchen… Ich
glaube, Thomas hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, als er
spürte, wie die Krankheit begann ihn aufzufressen, als der Schmerz
vor der Tür stand und Einlass verlangte. Ich glaube, er wollte
aufrecht sterben. „Du bist doch nicht … positiv?“ „Nein“, sagte er, und in ihm war immer noch diese beängstigende Ruhe, „nein, ich habe AIDS.” Ich stand da und mein Kopf war leer. Aufgenommen in den Kreis jener, die „es“ wissen, habe ich ihn stumm in den Arm genommen – und mich anschließend verkrochen. Feige verkrochen. Wenn ich in Berlin war, habe ich ihn nicht besucht – immer fand ich Ausreden: Keine Zeit, der Kongress, die Sitzung, mein Flugzeug, du verstehst… Dabei wusste ich doch, dass man „es“ nicht einfach so bekommt, dass man sich nicht ansteckt, wenn man ganz normalen alltäglichen Umgang mit einem AIDS-Kranken hat. Ich wusste doch, dass man ihn in den Arm nehmen könnte und müsste, dass man seine Hand halten kann, wenn er Angst hat und ein Bier mit ihm trinken kann, wenn er Lust darauf hat. Ich wusste es, und ich habe es nicht getan – das eine wie das andere nicht. Und jedes Mal, wenn ich ihn hätte besuchen können und es wieder nicht getan habe, wieder nur ein paar belanglose Worte durchs Telefon schickte, allen ernsthaften Gesprächen ausweichend, die Auseinandersetzung mit dem Tod, mit dem Leiden von mir wegschiebend, da fand ich mich erbärmlich, wenn auch nicht so erbärmlich wie den, der in einem Internetforum auf die Nachricht, dass Bill Gates eine Milliarde für die AIDS-Forschung gespendet habe, so reagierte: völlig
ueberbewerted
anstatt
saumäßig kohle für afrika
aids neger rauszuhauen sollte der seine
30 milliarden dollar stiftung lieber dafür verwenden wissenschaftliche pro- jekte auszugeben die auf dauer was bringen. gibt so viele intressante sa- chen die der richtig dick fördern könnte aber die paar hanseln die jeden tag an aids sterben sind ihm wichtiger. jeden tag sterben 150.000 menschen auf der welt, unabhängig davon ob durch krieg oder krankheit, das sind mal grad 2800 davon am tag durch aids, und der überwiegende großteil von 90% davon sowieso blos afrikaner mit der kohle kenn ich nen haufen sachen die man sinnvoller machen könnte. Vor der Eiseskälte mancher Menschen versagt mir die Sprache…
Ich habe mit Edgar darüber gesprochen. Edgar hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Er hat seit fünfzehn Jahren AIDS. Eigentlich ist er schon lange tot, aber er erlaubt dem Tod nicht ihn zu holen. Von allen Ärzten aufgegeben, hat er beschlossen noch nicht zu sterben. Mit seinen paar T-Helfer-Zellen, die das Virus ihm gelassen hat, erkämpft er sich Tag für Tag ein kleines Stück Leben. Edgar hat von seinen Tagen im Kloster erzählt, wo er Ruhe finden wollte, Kraft und Mut für den täglichen Kampf, und wo er ein Erlebnis hatte, das ihn, der für jede Stunde geschenkten Lebens dankbar ist, besonders berührte. Ein junger Klosterbruder hatte ihn abends beim gemeinsamen Gespräch unentwegt angesehen – so, wie man einen Menschen ansieht, den man näher, den man wirklich kennen lernen möchte... |