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AIDS ist die Strafe Allahs für die Schwulen”, hat mir Murat erläutert – er war vierzehn, und diese scharfsichtige Analyse hatte ihm sein Hodscha vermittelt, einer jener unsäglichen langbärtigen Gotteseiferer, der seine grenzenlose Dummheit nicht für sich behielt, sondern auch noch junge Menschen damit vergiftete, die zu ihm gekommen waren, um sich den Weg weisen zu lassen. Aber auf diesem Wegweiser stand nicht „Paradies“, sondern „Intoleranz  und Hass“ – keine guten Ratgeber für die, die nach dem Weg suchen…

Ich glaube, Thomas hat seinem Leben selbst ein Ende gesetzt, als er spürte, wie die Krankheit begann ihn aufzufressen, als der Schmerz vor der Tür stand und Einlass verlangte. Ich glaube, er wollte aufrecht sterben.
Er hatte die Menschen, die ihn kannten, in zwei Gruppen eingeteilt: Die, die „es“ wissen, und die anderen. Ein Jahr vor seinem Tod hat er es mir gesagt. Er war zu Besuch gekommen, aus Berlin, und wie er da so vor mir stand, sagte ich: „Du siehst gut aus!“ – wie man das halt sagt zu einem, den man länger nicht gesehen hat. Er nickte und er war ganz ruhig, als er antwortete: „Ja, und dabei bin ich schwer krank…“
Ich begriff zuerst nicht – und dann kam das Erschrecken.

Du bist doch nicht … positiv?“

Nein“, sagte er, und in ihm war immer noch diese beängstigende Ruhe, „nein, ich habe AIDS.”

Ich stand da und mein Kopf war leer. Aufgenommen in den Kreis jener, die „es“ wissen, habe ich ihn stumm in den Arm genommen – und mich anschließend verkrochen.

Feige verkrochen.

Wenn ich in Berlin war, habe ich ihn nicht besucht – immer fand ich Ausreden: Keine Zeit, der Kongress, die Sitzung, mein Flugzeug, du verstehst… Dabei wusste ich doch, dass man „es“ nicht einfach so bekommt, dass man sich nicht ansteckt, wenn man ganz normalen alltäglichen Umgang mit einem AIDS-Kranken hat. Ich wusste doch, dass man ihn in den Arm nehmen könnte und müsste, dass man seine Hand halten kann, wenn er Angst hat und ein Bier mit ihm trinken kann, wenn er Lust darauf hat. Ich wusste es, und ich habe es nicht getan – das eine wie das andere nicht. Und jedes Mal, wenn ich ihn hätte besuchen können und es wieder nicht getan habe, wieder nur ein paar belanglose Worte durchs Telefon schickte, allen ernsthaften Gesprächen ausweichend, die Auseinandersetzung mit dem Tod, mit dem Leiden von mir wegschiebend, da fand ich mich erbärmlich, wenn auch nicht so erbärmlich wie den, der in einem Internetforum auf die Nachricht, dass Bill Gates eine Milliarde für die AIDS-Forschung gespendet habe, so reagierte:

             völlig ueberbewerted

             anstatt saumäßig kohle für afrika aids  neger rauszuhauen sollte der seine
             30 milliarden dollar stiftung lieber dafür verwenden wissenschaftliche pro-
             jekte auszugeben die auf dauer was bringen. gibt so viele intressante sa-
             chen die der richtig dick fördern könnte aber die paar hanseln die jeden
             tag an aids sterben sind ihm wichtiger. jeden tag sterben 150.000 menschen
             auf der welt, unabhängig davon ob durch krieg oder krankheit, das sind
             mal grad 2800 davon am tag durch aids, und der überwiegende großteil von
             90% davon sowieso blos afrikaner mit der kohle kenn ich nen haufen sachen
             die man sinnvoller machen könnte
.

Vor der Eiseskälte mancher Menschen versagt mir die Sprache…


Thomas war es schließlich, der das Gespräch mit mir gesucht hat. Er wollte wissen, warum ich ihm ausgewichen bin. Ich habe es ihm zu erklären versucht, damals auf dem Rheindamm, als wir uns zum letzten Mal getroffen haben. Wir sind als Freunde auseinander gegangen und es war alles bereinigt, doch ich schäme mich heute noch.

Ich habe mit Edgar darüber gesprochen. Edgar hat ähnliche Erfahrungen gemacht: Er hat seit fünfzehn Jahren AIDS. Eigentlich ist er schon lange tot, aber er erlaubt dem Tod nicht ihn zu holen. Von allen Ärzten aufgegeben, hat er beschlossen noch nicht zu sterben. Mit seinen paar T-Helfer-Zellen, die das Virus ihm gelassen hat, erkämpft er sich Tag für Tag ein kleines Stück Leben.

Edgar hat von seinen Tagen im Kloster erzählt, wo er Ruhe finden wollte, Kraft und Mut für den täglichen Kampf, und wo er ein Erlebnis hatte, das ihn, der für jede Stunde geschenkten Lebens dankbar ist, besonders berührte. Ein junger Klosterbruder hatte ihn abends beim gemeinsamen Gespräch unentwegt angesehen – so, wie man einen Menschen ansieht, den man näher, den man wirklich kennen lernen möchte...