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Alle möchten geklonte Amerikaner sein
Untermieter und Bürger zweiter Klasse im eigenen Land

Von Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer

Wird Deutsch eine Eingeborenensprache? Diese provozierende Frage will ich an den Beginn meines Vortrags stellen. Und damit jedermann klar ist, in welcher Richtung die Provokation gehen soll, frage ich ausführlicher: Wird Deutsch hier in Deutschland eine Eingeborenensprache in einer Gesellschaft mit angloamerikanischer Kultur? Diese Frage richtet sich nicht gegen das Englische oder gegen die englischsprachige Welt. Wie könnte ich als Mensch, der mitten im Leben steht, wie könnte ich als Anglist so töricht sein, gegen die internationale Stellung des Englischen anrennen zu wollen! Es geht auch nicht in erster Linie um ein paar mehr oder weniger Fremdwörter aus dem Englischen, obwohl vieles von dem, was man da neuerdings hört und liest, überflüssig und albern ist und überdies gelegentlich im Englischen selbst gar keinen Sinn macht.

Diese Frage richtet sich vielmehr an uns selbst und an alle, deren Muttersprache Deutsch ist und die täglich deutsch reden, schreiben und denken. Wollen wir uns in unserer Sprache nach dem Modediktat von Werbefuzzis, journalistischen Schnöseln, sich aufblähenden Wirtschaftskapitänen, akademischen Wichtigtuern, Möchtegern-Intellektuellen und opportunistischen Politikern richten, die meinen, wenn sie etwas auf Englisch sagen oder in Englisch benennen, sie hätten damit das Gütesiegel des Neuen und Kreativen sicher? Und die auf diese Weise das Ansehen der deutschen Sprache immer mehr auf den Hund bringen? Wollt ihr, so müssen wir unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger fragen, wollt ihr diese Sprache auf ein Küchen- und Alltagsidiom herunterbringen, während ihr zugleich versucht, eine vom American way of life dominierte englischsprachige Kultur zu imitieren? In dieser Kultur werdet ihr immer nur Untermieter und Bürger zweiter Klasse sein. Denn Sprache und Denken, Sprache und Kultur, Sprache und Lebensweise gehören zusammen, und nur in dieser Einheit sind sie kreativ. Wer sich also nicht völlig aufgeben und sich nicht selbst durch eine englische Kopie ersetzen will, der darf die gegenwärtige Entwicklung gegen die deutsche Sprache nicht treiben lassen oder gar selbst betreiben, sondern muss sich diesem Modetrend entschlossen widersetzen.

Menschen ohne Stil


Prof. Dr. Hans-Joachim Meyer,,Historiker und Anglist. April - Oktober 1990: Bildungsminister der DDR, November 1990 bis April 2002 Staatsminsiter für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen.

Durch die immer stärker zunehmende Neigung von Deutschen, alles, was neu ist und modern oder so aussehen soll und was als innovativ oder modisch gilt, in Englisch auszudrücken, wird Deutsch zur Sprache von gestern. Man stiehlt dem Deutschen die Lebenskraft, indem man es nicht
mehr nutzt und weiter entwickelt. Man schämt sich des Deutschen und hängt sich ein internationales, in aller Regel ein amerikanisches Mäntelchen um. Meistens sitzt das Mäntelchen nicht, aber was macht das schon aus unter Menschen ohne Stil und Geschmack und ohne Gefühl für Würde
und Selbstachtung. Was mit der Sprache der Werbung begann und sich dann auf das gesamte Wirtschaftsleben ausdehnte, hat inzwischen alle Lebensbereiche erfasst, einschließlich der Politik und der Kirchen. Keine Partei glaubt, ohne englischsprachige Mätzchen auskommen zu können. Und wer in der Kirche mit der Zeit gehen will, singt Englisch. Inzwischen gab es sogar den Einfall, das Losungswort des Ökumenischen Kirchen- tages, „Ihr sollt ein Segen sein“,  durch das Englische „Be a Blessing“ zu ersetzen. Vielleicht meinte man wie der Hauskaplan des Kardinals von England in Shaws Stück „Heilige Johanna“, Gott  spreche nur Englisch. Jedenfalls wird  man schwerlich in der Welt noch eine andere Gesellschaft finden, die ihre eigene Sprache so schamlos missachtet und so hemmungslos aufgibt, wie die deutsche Gesellschaft.

Bemerkenswert scheint mir, dass dies insbesondere im letzten Jahrzehnt dominierend geworden ist. Gewiss ist dies zum Teil ein Ergebnis der fortschreitenden Globalisierung. Aber die typisch deutsche Exzessivität dieser Tendenz scheint mir eher die Reaktion auf die wieder gewonnene nationale Einheit. Jetzt, wo der durch die Revolution von 1848 begonnene Weg durch die friedliche Revolution vom Herbst 1989 endlich zur Vereinigung von Nation und Bürgerfreiheit in ganz Deutschland geführt hat und niemand mehr behaupten kann, die Verfolgung nationaler Anliegen gefährde Frieden und Demokratie, wir aber jetzt vor der Herausforderung stehen, die gesamte deutsche Gesellschaft zu erneuern, versuchen viele, insbesondere aus der erfolgsverwöhnten bundesdeutschen Gesellschaft, der deutschen Geschichte und der deutschen Gegenwart zu entkommen,
in dem sie als amerikanisierte Weltbürger posieren. Statt sich der Herausforderung zu stellen, eine zukunftsfähige deutsche Gesellschaft zu schaffen, glauben sie ihre je eigene Chance zu sichern, in dem sie sich der deutschen Gesellschaft nicht mehr länger zugehörig fühlen, sondern geklonte Amerikaner sein möchten.

Charakterlose Gesellschaft

Die Situation ist keineswegs neu in Deutschland, so wie ja auch der Hang zum Extremismus unsere ganze deutsche Geschichte durchzieht. Man braucht im folgenden Zitat aus Lessings Hamburgischer Dramaturgie nur das Französische und die Franzosen durch das Englische und die Amerikaner zu ersetzen, um eine treffende Beschreibung der Charakterlosigkeit auch der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft zu erhalten.
Denn was den Charakter der Deutschen anbetrifft, so meint Lessing scharfzüngig:

Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten Franzosen; alles was uns von jenseits dem Rheine kömmt, ist schön, reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör, als daß wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein Geklingle von Reimen für Poesie, Geheule für Musik uns einreden lassen, als im geringsten an der Superiorität zweifeln, welche dieses liebenswürdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile erhalten hat. “ (Hundertunderstes, -zweites, -drittes und -viertes Stück)

Nachdem zwischenzeitlich, aber doch schon vor einer beträchtlichen Weile, jene in Deutschland das Sagen hatten, denen alles Welsche ein Greuel war und die am deutschen Wesen die Welt genesen lassen wollten, badet jetzt die deutsche Gesellschaft schon geraume Zeit und mit ständig wachsender Hingabe in Amerikaseligkeit und trägt Sorge, dass nicht einmal ihre Badehose noch ein deutsches Etikett trägt. Der fortschreitende Statusverlust des Deutschen ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft: für unsere geschichtliche Erinnerung, für unsere geistige Stabilität in einer Zeit raschen Wandels und für unsere künftige Fähigkeit, in Deutsch Neues zu denken und wirkungsvoll zu formulieren.

Auszug aus einer Rede vor der Delegiertenkonferenz des Vereins Deutsche Sprache (VDS) am 25. Mai 2002 in Bautzen
Quelle: Sprachnachrichten Nr. 2 (Juni 2002), S. 3