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Ich über mich Olympia 1972
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Ich war ein liberaler Scheißer...

Ich gebe es zu - ich schreibe hier so freudig über den Mythos 1968 und bin stolz darauf, was in diesem Jahr
an nachhaltigen Veränderungen passierte. Ich erzähle auch gerne, dass ich in Essen vor dem WAZ-Gebäu-
de, in dem bis zum Umzug nach Kettwig auch der Springer - Verlag residierte und BILD absonderte, am Tag
nach dem Attentat  auf Rudi Dutschke mitgeholfen habe Barrikaden zu bauen, um die Auslieferung des zum
feindlichen Organ Nr. 1 erhobenen Hetzblattes mit den großen Buchstaben zu verhindern. Das war aber - ich
gestehe es kleinmütig - mein schlimmster Exzess.  Anfang der siebziger Jahre wollte mir einer meiner Schüler -
einer, mit dem ich eigentlich sehr gut auskam - eine Bombe unters Auto legen, weil ich ihm nicht radikal  ge-
nug war, weil ich mich nicht dazu durchringen konnte, irgendwelche Fensterscheiben einzuschmeißen  oder
was auch immer es  an revolutionären Akten noch gab,  mit denen  man das Establishment  aus den Angeln
heben konnte, dass es nur so seine Art hatte...

(Nebenbei: Der Jung-Revolutionär ist heute im RWE-Konzern Prokurist und  Leiter des Bereichs
Recht, Personal und Unternehmensentwicklung (RWW  Rheinisch Westfalische Wasserwerks-
gesellschaft)
. Aus der der 68-er Sicht ein total konservatives Arschloch, Establishment eben. Aber
nicht nur das mit
dem häufig wechselndem Geschlechtsverkehr bleibt im Leben ein frommer  Vorsatz...)

Das Establishment - das waren  "die da oben",  die Kapitalisten, die Ausbeuter, die Politiker, die Militärs, die
Kirchenfürsten - halt alle, die in dem Staat etwas zu sagen hatten. Das Establishment war autoritär, reaktio-
när, lustfeindlich. ("Wer zweimal mit der selben pennt, gehört schon zum Establishment...").
Ich war auch gegen das Establishment. Ich fand die autoritären Strukturen in unserem Staat, vor allem auch
an  unseren  Schulen, ebenfalls zum Kotzen - aber ich war eigentlich gegen Gewalt,  auch gegen die endlo-
sen Diskussionen, auch gegen den  Absolutheitsanspruch der SDS - Ideologen. Ich war eben doch kein Teil
der "kleinen radikalen Minderheit", sondern ein liberaler Scheißer.

Ein bisschen ging's mir dann doch so wie dem von mir so geschätzten Hanns-Dieter Hüsch, der schon kurz
nach den Essener Songtagen von 1968  die Zusammenarbeit mit der Studentenbewegung abbrach, als er
beim
Folk-Festival auf der Burg Waldeck und in Berlin nach teilweise chaotischen Störungen als "Kitschge-
müt mit Goldbrokat", das seine poetische Kraft angeblich einem "bourgeoisen Verniedlichungstrend" opfert,
von der Bühne gebuht wird. In seinem Programm „Enthauptungen“ rechnete er daraufhin verbittert mit seinen
dabei gemachten Erfahrungen ab: „Das ist einfach so, wenn einem die eigenen Genossen mehr oder weni-
ger vorwerfen, man wäre nicht genug Genosse“.

(Mein erster Schulleiter übrigens, Karl-Heinz Kuhs,  Ehrenvorsitzender der Essener F.D.P. und einige Jahre
Bürgermeister von Essen, war kein liberaler Scheißer, sondern ein Scheiß-Liberaler. Den Unterschied habe
ich, Gott sei's geklagt, nie ganz begriffen - ich glaube, ein Scheiß-Liberaler musste F.D.P. Mitglied sein... )

Die Deutung, die mir sein Sohn Hans-Joachim kürzlich zukommen ließ:
«Ein "liberaler Scheißer" kackt überall hin.
Ein "Scheiß-Liberaler" ist ein beschimpfter Liberaler.»,
vermag mich auch nicht so recht zu überzeugen.

Dafür aber begriff ich das, was Peter Knorr in meiner damaligen Pflichtlektüre "Pardon" über uns liberale
Scheißer und die falschen Revolutionäre schrieb - denn das war mir aus dem Herzen gesprochen...
 

   Der SDS hat in Deutschlands politischer Landschaft zwei Sitzgelegenheiten aufgestellt. Auf der einen hat er sich, in seinem Selbstverständnis
als einzig legitimierter Streiter im Kampf um eine sozialistische Zukunft, selber niedergelassen; auf dem anderen hockt das reaktionär-autoritäre Establishment. Zwischen den berühmten Stühlen aber, so hat der SDS beschlossen, sitzen sämtliche linken Professoren, Tausende von Gewerkschaftlern, die Mehrzahl der fortschrittlichen Assistenten und eine unüberschaubare Zahl von Schülern und Studenten. Kurz: die liberalen Scheißer. 

    Über den Stuhl auf der Rechten braucht nicht gesprochen zu werden. Er hat sich für den verstandbegebten Zeitgenossen als unbrauchbare Sitzgelegenheit erwiesen. Ohne jeden Zweifel muß die Gesellschaft verändert werden, und zwar grundlegend verändert werden. Und sicher hat der SDS zur Verbreitung solchen Bewußtseins unter 
einer begrenzten Anzahl von Personen etliches beigetragen. So weit, so gut.
   Aber der SDS ist kein einheitlicher und einheitlich zu beurteilender Verband mehr, sondern wird in der Öffentlichkeit von Vertretern mit sehr verschiedenen Verhaltensweisen und unterschiedlich attraktiven Vorstellungen repräsentiert. Dabei kann besonders die von einem Teil dieser Leute definierte und in Anspruch genommene radikal-revolutionäre Position nicht als die einzig mögliche, nicht einmal als eine überhaupt Erfolg versprechende bezeichnet werden. Weder sind die ökonomischen Voraussetzungen, noch ist vor allem eine revolutionsbereite Massenbasis vorhanden. Wer dennoch auf Grund einer - und sei sie noch so berechtigten - Ablehnung des kapitalistischen Systems in seiner Denk- und Aktionsweise von einer revolutionären Situation ausgeht und dabei in elitärer Selbstüberschätzung glaubt, im Interesse einer noch unbewußten Arbeiterklasse zu handeln, der begeht - im harmlosesten Fall – Selbstbetrug.
   Es gibt in dieser Situation kaum noch Gründe, um einer angeblichen Einheit des linken Lagers willen, zu allem, was (...) von Linksaußen unternommen wird, sein stillschweigendes Einverständnis zu geben. Dem ständigen und autoritären Verlangen einiger (...) SDS-Führer nach Solidarisierung mit ihnen und ihren Aktionen steht in nicht mehr übersehbarer Deutlichkeit gegenüber: die ständige Verteufelung eben jener linken Professoren, Studenten und Autoren, deren theoretisch- analytische und praktische Hilfe sie wohl immer wieder annehmen, die sie aber in unermüdlichen ideologischen Richtungskämpfen mit absolutem Gültigkeitsanspruch gleichermaßen verdammen wie die reaktionärsten Vertreter des Systems. In der zwangsläufigen Unterlegenheit gegenüber den mit allen Machtmitteln eines funktionierenden Staatsapparates ausgerüsteten eigentlichen Gegnern werden Ersatzgegner - wie etwa der Frankfurter Professor Habermas - aufgebaut und mit allen - auch den unfairsten - Methoden bekämpft. Es grenzt an die Immobilität des Kaninchens vor der Schlange oder aber an masochistische Lust wenn alle jene als ,,liberale Scheißer" diffamierten Linken trotz permanenter Verleumdungen und Beschimpfungen auf ihrer resignierenden Loyalität bestehenbleiben, allein aus der schwachen Genugtuung darüber, daß der institutionalisierten Gewalt das spätkapitalisti- schen Systems mit einigen ständig aktiven SDS- Kamikazes überhaupt eine, wenn auch ungeeignete, Gegenkraft entstanden ist. Darin zwar gilt dem SDS 
die zahlenmäßig so starke Linke von Zeit zu Zeit als willkommene Unterstützung bei Demonstrationen
oder auf teach-ins als gern gesehenes (...) Publikum. Dennoch hat er aber
sehr wohl seine Gründe, diese nicht SDS- konforme Linke prinzipiell zu bekämpfen. Denn wer, wie sie, Veränderungen und Reformen will und diese möglicherweise auch noch durchsetzt, der „verbessert ein System“, das nach den revolutionären Vorstellungen  des SDS schon heute vernichtet werden könnte. Folgerichtig begnügt sich denn auch diese - mangels Proletariat - revolutionäre Ersatzklasse nicht mit der Arbeit an umwälzenden Reformen, sondern fordert lieber die Zerschlagung der Institutionen und des Systems überhaupt. Ihre größten Gegner sind hierbei all jene „liberalen Scheißer“, die mit berechneten Provokationen und ausdauernder Zähigkeit die reaktionäre Bürokratie
und Macht zu einem Zugeständnis nach dem anderen zwingen. 

   Die (Radikalen) des SDS liefern dagegen mit ihren exzessiven, von der Bevölkerung unverstandenen
und vielfach schon deshalb abgelehnten Aktionen und Parolen dem System ein Alibi nach dem anderen, um gegen die Linke insgesamt einschreiten zu können.

(...) Das Unvermögen, jene utopische, aber bessere, weil sozialistische Zukunft, die da per Revolution erkämpft werden soll, sich selbst und einer größeren Offentlichkeit zu verdeutlichen und in einen erfaßbaren politischen Zusammenhang zu stellen, hat die SDS-Theoretiker auf die Dauer ins Leere laufen lassen. Es kann nicht erwartet werden, daß der Bürger - auch bei noch so sprachlich vereinfachten Erklärungsversuchen - sich auf eine per se nicht definierbare Utopie einläßt. Selbst unter der unrealistischen Voraussetzung, daß er tatsächlich einmal (...) die Unzulänglichkeit und Inhumanität des jetzigen Systems erkennen sollte, wird er dieses alte System nicht zerstören wollen, wenn er sich ein neues, besseres nicht vorstellen kann oder auf vage Begriffe wie „Rätedemokratie“ angewiesen ist.
   Bis jetzt hat er vielmehr die verständliche Befürchtung, die Zukunft könne so aussehen, wie einige (...) sie herbeiführen wollen. Denn Auftreten und Handlungsweise einiger Vertreter des Anarchismus und stalinistischer Auffassungen von Sozialismus sind keineswegs geeignet, kritisches Bewußtsein zu schaffen. Da genügt als Rechtfertigung auch nicht die Versicherung, daß die Gewalt des Systems unvergleichlich bedrohlicher ist. Diese wird nach wie vor von den Massen weder erkannt noch gefürchtet. Im Gegenteil: Sie wird als Mittel zur Aufrechterhaltung  von „Ruhe und Ordnung“ gegen die gesamte Linke verstärkt gefordert.
   Eine der Vernunft und realistischer Einschätzung ihrer politischen Möglichkeiten verpflichtete Linke ist langsam im Begriff, sich darüber klar zu werden, wem ihre schweigsame, aber geduldige Solidarität gilt; ob elitäre Ideologie und wilder Aktionismus nicht viel weniger dem System, als der Linken selbst schaden. 
  Wesentlich erleichtert wird dieser notwendige
Prozeß der Distanzierung besonders durch jene andere Gruppe von falschen Revolutionären, deren Geistes- oder besser Gemütshaltung sich auf unreflektierte Revolutionsromantik beschränkt. (...) Das revolutionäre Movens allzuvieler Anhänger des SDS und der APO ist allgemein nicht so sehr
kritischer Intellekt, als vielmehr emotional-idealisti-
sche Begeisterung. Deren Erscheinungsformen erinnern an frühere Jugendbewegungen, wenn es
 in fataler Ahnlichkeit der Textilien am  
Fahnenmast
(diesmal freilich in Rot) bedarf, der stimulierenden Gesänge (immer noch Marschrhythmus, nun aber Proletarierromantik) und auch auf rhetorische Auf- putschmittel nicht verzichtet werden kann. Da kommt es einer pubertären Mutprobe gleich, wenn der Jungrevolutionär flugs eine Fensterscheibe und damit das System in Form einer Versicherungs-
gesellschaft entscheidend trifft; da werden mit fernöstlichen Pappkameraden mythischer Personenkult und aus exotischen Ländern nicht übertragbare Modelle des revolutionären Kampfes in den vollkommen anders strukturierten Industriegesellschaftsalltag übertragen. Da wird der Frustration mit Emotion begegnet. Genauso wie bei den elitären Revolutionsideologen der intel- lektuelle Zorn, so wendet sich bei den Revolutions-
Romantikern die Emotion zuerst und vehement gegen die rational denkenden und entsprechend handelnden Radikaldemokraten, gegen jene
„ Scheißliberalen“, von denen sie sich durchschaut fühlen, bei denen der (idealistische) „Funke“ nicht gar so leicht zündet und bei denen das Feuer „revolutionärer Begeisterung“ nicht solchen Strohs bedarf. Wie sollte auch Solidarität oder gar Identifikation von seiten der realistischen Linken möglich sein, wenn ein großer Teil der Aktionen und Methoden deren sich der SDS bedient, von ihm selbst nicht als objektiv richtige, aber als im revo- lutionären Kampf legitime Verhaltensweise definiert werden! Dazu gehört das bewußte Benutzen falscher Zitate und Tatsachenbehauptungen, das Erwecken unreflektierter Emotionen, die Bejahung der Gewalt und die Manipulation. Folgerichtig sagt der ehemalige SDS-Vorsitzende K. D. Wolff:,,Es kommt (dabei) auf die Intentionen an“!, 
was bedeutet: der Zweck heiligt wieder einmal die Mittel. Die Frage stellt sich da zwangsläufig, was denn nun jene Gruppe, die sich zum Sprecher und Richter über alle anderen politischen Meinungen und Richtungen innerhalb des linken Lagers aufspielt, bisher erreicht hat. Die Antwort kann nur lauten, daß nach anfänglichen Erfolgen jetzt lediglich das traurige Verdienst der Radikalen geblieben ist, daß mittlerweile die Kluft zwischen Arbeitern und Studenten, zwischen Linken und Links-Liberalen immer tiefer geworden ist. Daß einige SDS- Agitatoren eine Freund- Feind- Konfrontation quer durch das fortschrittliche Lager aufgebaut haben, die gesellschaftliche Veränderungen auf lange Zeit schwer, wenn nicht unmöglich macht.
Es scheint eine historisch zurückverfolgbare, märtyrerhafte Tendenz innerhalb der deutschen Linken zu sein, politische Niederlagen geradezu auf ihr Programm zu schreiben. Statt die Möglichkeiten einer großen, auf effektive Veränderungen bedachten, fortschrittlichen Links-Koalition auszunutzen, sich mit allen zur Verfügung stehenden publizistischen Organen Gehör und Basis zu verschaffen, wird den schon etablierten Reaktionären und den immer stärker und offensiver werdenden Faschisten mehr und mehr Spielraum überlassen.
  Schuld daran haben die hysterischen Exponenten auf der Linksaußen-Position, die anstelle einer praktikablen Realisierung sozialistischer Vorstellungen offenbar kurzsichtige und emotionale Ersatz- handlungen gesetzt haben.
  Schuld daran haben aber auch jene Linken, die sich zwar als liberale Scheißer" diffamiert fühlen, aber noch nicht die Kraft aufgebracht haben, sich mit ihren gemeinsamen, realitätsnäheren, glaubwürdi- geren - mit durchführbaren Ideen an die Spitze der Bewegung zu stellen.