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            28. Jahrgang                                    München, Dienstag 5. September 1972                                         Preis 10 Pf
 
Erste Augenzeugenberichte vom Mordterror 
Neues Ultimatum der Guerillas


Trainer der Ringermannschaft bei dem Überfall auf das israelische Sportlerquartier erschossen

Mindestens ein weiterer Israeli verletzt / Etwa zehn Athleten als Geiseln festgehalten/ Arabische Attentäter
fordern Freilassung von wenigstens 200 Gefangenen in Israel und freien Abzug aus München



Kurz nach 4.30 Uhr:
Der erste Schuß
VON PETER PRAGAL
Der Münchner Fernseh-Reporter Dagobert Lindlau packte seine Filmunterlagen zusammen und wollte nach anstrengender Nachtarbeit nach Hause fahren. Es war Dienstag Morgen kurz nach 4.30 Uhr. Da hörte er einen einzelnen „scharfen Schuß." Er schlug, was Lindlau erst später wahrnahm, in der Lufthansa-Küche im zweiten Stock des ,Deutschen Olympia-Zentrum' ein, zerriß eine Scheibe und riß am Ende des Raumes ein Loch. Der Reporter blickte auf die Posten, die im benachbarten olympischen Männerdorf Wache schoben, entdeckte bei ihnen keine Reaktion und dachte sich: „Das wird wahrscheinlich ein besonders humorvoller Sportschütze sein, der sich einen Scherz erlaubt.” 
Lindlau ahnte nicht, daß sich zur gleichen Zeit wenige hundert Meter entfernt ein Verbrechen abspielte. Während die Athleten aus 122 Ländern noch schliefen, drang eine Gruppe von wahrscheinlich fünf arabischen Terroristen mit Maschinenpistolen in das Haus Conollystraße 31 ein. Dort wohnen 15 Sportler der israelischen Männermannschaft. Bei einem Handgemenge am Eingang drückte einer der maskierten Männer seine MP ab. Die Kugel traf Moshe Weinberg, Trainer des israelischen Ringerteams.
„Ich sah ihn blutüberströmt liegen”, berichtete später der Journalist Israel Rosenblatt. „Besonders sein linker Arm war voller Blut.” Während drei der Israelis dem Überfall entkommen konnten - einer flüchtete sich in das Olympia- Zentrum außerhalb des Dorfes - wurden die übrigen Athleten als Geiseln festgehalten. 

Polizei und Organisationskomitee gaben Alarm. Die Posten an den Eingängen wurden verstärkt und angewiesen, keine Journalisten ins Olympiadorf zu lassen. Eine Nachrichten-Sperre wurde ver- hängt.  Doch die Hoffnung von NOK - Chef Willi Daume, den brutalen Anschlag zunächst nicht nach draußen dringen zu lassen, schwand bald. Die Nachrichtenagenturen hatten bereits gegen sechs Uhr davon Wind bekommen und die Rundfunk- Olympiawelle verbreitete die Meldung um 7 Uhr. Inzwischen wurde im Untergrund, im Kellergeschoß, das an Garagen vorbei zum Haus 31 führt, ein kriminalpolizeilicher und staatsanwaltli-

cher Front-Stab eingerichtet: Experten der Münchener Mordkommission, der politischen Polizei und des Geheimkommandos Sonderfahndung versammelten sich, von den Kidnappern ungesehen, in unmittelbarer Nähe des Objektes.  Man konnte von Zeit zu Zeit einen der Araber - es wird von fünf gesprochen - mit seinem Maschinen- gewehr patrouillieren sehen. In seinem grünen Blazer- Anzug mit dem Olympia- Emblem - er ist Stadionsprecher - wurde Erster Staatsanwalt Dr. Dieter Hummel zum Tatort beordert. Hummel ist bei Bearbeitungen arabischer Terroranschläge Experte: Am 10. Februar 1970 war er es, der die Ermittlungen gegen die Attentäter vom Flughafen Riem geführt hat und ihre Freilassung auf Grund neuer Erpressungen erleben mußte. 
Während sich immer mehr Neugierige vor den Eingängen des Olympiadorfes stauten, während Polizisten sich daran machten, den Verkehr umzuleiten, über- mittelten die Terroristen ihre Forderungen auf drei Blatt Papier, in englischer Sprache. Das Schreiben wurde von einem Terroristen, einem fast schwarzhäutigen Araber, der fließend deutsch sprach, vom Balkon des Hauses Connollystraße 31 geworfen, dessen Erdgeschoß von der israelischen Mannschaft belegt ist. Die Forderung: Die israelische Regierung solle 200 arabische Gefangene freigeben. Die Terroristen verlangten darüber hinaus freien Abzug und Flugzeuge, mit denen sie sich mit ihren israelischen Geiseln absetzen wollten. Die Polizeiführung bot dem fließend deutsch sprechenden Wortführer der Terroristen eine Geldsumme an, falls sie die Geiseln freiließen. Doch die arabischen Gangster lehnten dieses Angebot ebenso ab wie das Anerbieten, deutsche Ersatzgeiseln zu stellen. "Es geht nicht um Geld und nicht um Geiseln", sagten die Araber, "sondern um die Freilassung der Gefangenen." 
Wie brutal und entschlossen die Guerillas an ihrem Vorhaben festhielten, zeigt ihre Drohung, sie würden, falls man ihre Forderungen nicht erfülle, "alle Israelis erschießen". Wenig später wurde mitgeteilt, daß noch ein zweiter Israeli getötet worden sei.

Während der Krisenstab unter Leitung von Bundesinnenminister Genscher im Verwaltungshochhaus an der Lerchenauer Straße zusammentrat und fieberhaft nach einer Lösung suchte, waren die  meisten der 4000 in- und

ausländischen Journalisten in der  Pressestadt noch ahnungslos. Im Pressezentrum saßen die Sportreporter beim Frühstück und lasen die Morgenzeitungen. Als Pressechef Hans Klein gefragt wurde, ob demnächst eine Pressekonferenz stattfinde, fragte er mit gespielter Ahnungslosigkeit zurück: "Welche, die von Mark Spitz?" 
Was zunächst wie ein Witz erschien, wurde bald Realität. Nachdem Klein mit wenigen Sätzen über die dramatischen Ereignisse im olympischen Dorf berichtet hatte, wurde der amerikanische Superschwimmer der Presse vorgeführt. So als gebe es zu diesem Zeitpunkt kein wichtigeres Ereignis, richteten die Sportjournalisten ihre Fragen an Spitz, wollten wissen, wie er sich fühle und was er vorhabe und wen er für den zweitbesten Schwimmer der Welt halte. Ein einziger Reporter stellte eine aktuelle Frage: Sollten die Spiele nach dem blutigen Terror im Dorf abgebrochen werden? Spitz: „Ich finde den Vorfall sehr tragisch und habe keinen weiteren Kommentar dazu.” 
Inzwischen hatten sich immer mehr Journalisten im Pressezentrum einge- funden. Aufgeschreckt von den grau- sigen Nachrichten, begehrten sie mehr zu wissen. Doch Klein vermochte ihnen nur zu erzählen, daß Daume den olym- pischen Frieden für stärker als  »den politischen Fanatismus zynischer Mör- der« halte, und daß IOC-Präsident Avery Brundage die Spiele fortgesetzt sehen möchte. Sonst sei „im Interesse von Menschenleben” nichts zu sagen. 

Die Ungewißheit über die tatsächlichen Vorgänge und der spärliche Informati- onsfluß, den auch Rundfunk und Fernsehen nicht reichlich sprudeln lassen konnten, gab der professionellen Gerüchteküche Nahrung. Da wurde die Version verbreitet, die arabische Terroristengruppe sei über ein verschlossenes, aber nicht bewachtes Tor geklettert. Postbeamte hätten sie dabei beobachtet, sie jedoch für verspätete Sportler gehalten, die einen zuviel getrunken hätten. Tatsächlich scheint die Kontrolle rings um das Männerdorf in letzter Zeit nicht gerade streng gehandhabt worden zu sein. Dem Reporter Lindlau, der einen Film über das erwachende Dorf drehen wollte,fiel zum Beispiel auf, daß die Sperren an den Zufahrten nach drei Uhr nachts in einigen Fällen nicht besetzt gewesen seien. Akkreditierte Journalisten konnten jedenfalls mit ihren Ausweisen das Dorf


BEIM ÜBERFALL ERMORDET wurde der
israelische Ringertrainer Moshe Weinberg.
Photo: UPI

bis 20.30 Uhr betreten. Besonders unter den kanadischen Sportlern, die nur 20 Meter von der israelischen Mannschaft entfernt in der Conollystraße 27 unter- gebracht sind, war deshalb Unruhe entstanden. Morris Allen, der Delegationsleiter der Kanadier, äußerte, man habe „so etwas befürchtet”, es jedoch nicht laut aussprechen wollen.
Es waren in der Tat vor Beginn der Olympiade den Sicherheitsbehörden Meldungen zugegangen, denen zufolge arabische Terroristengruppen, darunter die Organisation „Schwarzer September”, die jetzt die Verantwortung für den Anschlag übernommen hat, Entführungen planten. Es war sowohl von dem Kidnapping eines arabischen Prinzen als auch von der Entführung von Sportlern die Rede.
Kurz nach elf Uhr kam dann Polizeichef Schreiber persönlich zu den Journalisten. Aber auch er wußte niçht allzuviel Neues zu berichten *). Die Aussagen, so meinte er, „gingen noch weit auseinander”. Mal sei von fünf, ein anderes Mal von 21 Tätern die Rede. Und auch die Zahl der Geiseln, unter denen sich auch der israelische Chef de Mission, Shmuel Lalkin befindet, schwanke zwischen neun und 26. Was die olympische Tragödie für Folgen haben kann, zeigt sich auch am inzwischen widerlegten Gerücht, die DDR- Mannschaft, die in unmittelbarer Nähe des Tatorts wohnt, bereite sich mit dem Hinweis, hier sei man nicht mehr sicher, auf ihre Abreise vor.



* )mp3-Datei der Pressekonferenz


BUNDESINNENMINISTER GENSCHER (Mitte hinten) wird von Polizeipräsident Schreiber (vor ihm) in die Nähe 
des Tatorts geleitet.
Photo: NOP 



ÜBER DEN ZAUN verließen am Vormittag des Dienstags manche
Athleten das olympische Dorf, weil dessen Tore abgesperrt waren.    dpa

POLIZISTEN haben seit den frühen Morgenstunden
das olympische Dorf hermetisch abgeriegelt
Photo: UPI