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Ich über mich | Olympia 1972 | Essener Songtage 1968 |
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Texte |
Am 11. August wollte ich nach Freiburg fahren, um Tante Inge zu besuchen. Am 10. August ist sie gestorben. Manchmal träume ich, dass ich einen Zug erreichen muss und zu spät komme. Jetzt weiß ich, warum. Tante Inge war nicht nur unsere Familien-Älteste, sie war auch das geistige Zentrum unserer Familie. Fast bis zuletzt hat sie am Weltgeschehen teilgenommen, offen, neugierig, mitfühlend und immer bereit, sich mit anderen auszutauschen. Manchmal meine ich, dass sie sich immer mehr der Welt öffnete, je älter sie wurde. Sie zählte nicht zu den verbitterten alten Menschen, denen früher alles besser war und die mit verhärteten Zügen und herabgezogenen Mundwinkeln auf die jungen schauen. Wenn sie liebevoll von ihren "Zivis" sprach, die sie in ihrem Altersheim betreuten, dann leuchteten ihre Augen, die sonst schon manchmal sehr müde geworden waren, müde von vielen Krankheiten und von den Lasten, die sie getragen hat, ohne sich je zu beklagen.. Mit diesen jungen Männern hat sie besonders gerne gesprochen - über den Zustand der Welt, über Krieg und Frieden genau so wie über die täglichen Probleme des Alltags, Studium, Arbeits- plätze, Liebe, Kummer. Dabei hat sie selbst es nicht leicht gehabt in ihrem Leben. Sie hat auf vieles verzichtet - auf all das, was die Egomanen dieser Welt heute als Selbstentfaltung schön- reden und damit doch nur schrankenlosem Egoismus, fehlender Empathie, fehlender Solidarität das Wort reden. Sie war in ihrer stillen und unaufdringlichen Art da, wenn jemand sie brauchte. Sie hat geholfen, wo sie helfen konnte, beraten, wo sie raten konnte, mitgefühlt, wo Mitgefühl gewünscht war - und gestritten, wenn Streit notwendig war. Sie hat auf vieles verzichtet - und hat doch nicht darunter gelitten, denn sie lebte in der Sicherheit eines unerschütterlichen Glaubens, der auch im Elend das Wirken Gottes zu sehen vermochte. Wir haben sie bewundert - für diesen Glauben, in dem wir anderen nicht so sicher sind, für ihre umfassende Bildung, für ihr lebendiges Interesse an allem, was in ihrer, unserer großen Familie gedacht, gefühlt, geplant, getan wurde. Vor allem aber haben wir sie bewundert für ihre Fähigkeit, der schlimmsten Lebenslage etwas Gutes abzugewinnen, sich zu bescheiden mit dem, was man hatte und was möglich war und dabei zufrieden zu sein. Unvergesslich werden mir die letzten Tage sein, als sie, schon weit über 97, den Sturz tat, der sie schließlich das Leben kostete: Mit gebrochenem Arm und Oberschenkelhals lag sie im Krankenhaus, betreut von einer Krankenschwester aus Ghana - und da erfasste sie unter all ihren Schmerzen doch ein Gefühl der Dankbarkeit: Dankbarkeit dafür, dass sie in einem ordentlichen Krankenhaus behandelt, dass sie gepflegt wurde,dass sie also nicht das Schicksal Zehntausender afrikanischer Menschen teilen musste, die keine solche Behandlung erfahren konnten. In einer Welt von Egoismus, Jugendwahn und Konsumrausch erschien sie wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Wir haben gedacht, sie schafft es auch diesmal wieder, vielleicht im Rollstuhl, aber auf jeden Fall wieder in der Welt. Und dann ging es doch ganz schnell. Als sie entgegen den ursprünglichen Absichten der Ärzte operiert werden musste, machte ihr von vielen Krankheiten und vom hohen Alter geschwächter Körper nicht mehr mit. Wenige Tage nach der eigentlich erfolgreichen Operation ist sie gestorben - sanft, ohne Todes- kampf, wie ihre Mutter. Ich glaube, sie wollte sterben, sie hat bewusst losgelassen, sie hat ihren Wunsch, hundert Jahre alt zu werden, ad acta gelegt und sich einer anderen Welt anvertraut, einer Welt, vor der sie keine Angst hatte und die sie so betrat, wie sie gelebt hat: Neugierig, offen und im Vertrauen darauf, dass das wohl getan ist, was Gott tut.
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